Feldpost im Zweiten Weltkrieg
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"Kommunikation und Krieg - Konstruktion und Geschichte"

Workshop von Dr. Katrin Kilian im Rahmen der Kurztagung "Kriegserfahrungen im 20. Jahrhundert. Feldpost und Erinnerungsinterwievs." Bad Honnef, 22.-25.5.2002 an der Studienstiftung des Deutschen Volkes. Leitung: Astrid Irrgang, M.A., Bonn. Dozenten: Dr. Martin Humburg, Lemgo / Dr. Katrin Kilian, Berlin / Dr. Klaus Latzel, Bielefeld / Prof. Alf Lüdtke, Erfurt / Prof. Dr. Lutz Niethammer, Jena.

Johannes Busse, Christina Lembrecht, Sonja Levsen, Matthias Lux, Michael Mehl, Holger Osterrieder, Katharina Schneider, Sven Scholven, Judith Ulmer, Jan Wiele, Joachim Willems:

Stalingrad - Was über und aus der Einkesselung berichtet wird

Kriegsgeschichte wird in den meisten Fällen aus der Sicht der Heeresleitung und der politischen Führung geschrieben. Deren Sichtweise allerdings unterscheidet sich von der der Beteiligten. Am Beispiel von Stalingrad 1942: Für die einzelnen eingekesselten Soldaten haben Hunger, Kälte und Angst, so darf angenommen werden, eine andere Bedeutung als für die Führung in Deutschland. Auch das historische Lehrbuchwissen unterscheidet sich erheblich von der Wahrnehmung der Situation durch die Eingeschlossenen. Wer sich im Nachhinein mit dem Zweiten Weltkrieg beschäftigt, kennt die weiteren Entwicklungen, die die Beteiligten vielleicht nicht einmal erahnt haben. Die weltpolitisch bedeutsamen Zäsuren sind in vielen Fällen weniger wichtig als persönlich entscheidende Ereignisse: Einer eigenen Verwundung, des Todes von Kameraden usw.
Im folgenden Text soll diesen Fragen nachgegangen werden: Wie berichten Soldaten in Feldpostbriefen über und aus der Einkesselung? Was halten sie für mitteilenswert? Wie unterscheidet sich das Bild, das sie geben, von dem, das uns aus anderen Quellen zugänglich ist, oder von dem, das in chronologischen Überblicken zum Zweiten Weltkrieg gezeichnet wird?

Rahmendaten der Schlacht um Stalingrad

Die strategischen Ziele der deutschen Sommeroffensive 1942 waren die Ölfelder im Kaukasus und die Industriestadt Stalingrad. Um diese Ziele zu erreichen, musste sich die Heeresgruppe Süd aufteilen. Auf dem linken Flügel marschierte die 6. Armee unter General Friedrich Paulus auf Stalingrad zu und schloss Mitte Oktober 1942 die Stadt ein. In blutigen Straßenkämpfen wurden neun Zehntel der Stadt erobert. Ende Oktober blieb die Offensive stecken. Die Sowjetarmee marschierte am nördlichen Don-Ufer und südlich von Stalingrad zum Gegenangriff auf. In einer überraschenden Offensive durchbrachen am 19. November drei russische Heeresgruppen die schwache rumänische und italienische Flankendeckung der 6. Armee und vereinigten sich vier Tage später westlich von Stalingrad bei Kalatsch. Statt auszubrechen, befahl Hitler der Armee, sich "einzuigeln". Reichsmarschall Göring versicherte, dass die Luftwaffe den Nachschub nach Stalingrad aufrecht erhalten könne. Am 17. Dezember 1942 riss eine neue sowjetische Offensive die deutsche Front am Don auf und machte den letzten Entsatzversuch General Hoths 50 km vor Stalingrad zunichte. Zuvor hatte Hitler der 6. Armee den Ausbruch in die Richtung auf Hoths Heeresgruppe Don ebenso wie die Kapitulation untersagt.
Die versprochene Versorgung aus der Luft erwies sich als völlig unzureichend. Die viel zu schwache Lufttransportflotte scheiterte wegen des Verlustes frontnaher Flugbasen, der starken russischen Flugabwehr und des ungünstigen Wetters. Die Versorgung der Soldaten verschlechterte sich im Winter 1942/43 derart, dass zuletzt nur noch ein Sechstel der benötigten Güter in den Kessel gelangte. Konnte bis Anfang November 1942 noch eine eingeschränkte Versorgung der Truppen durch die Luftwaffe gewährleistet werden, führten Nebel, Eisstürme und die damit verbundene Gefahr einer Vereisung der Maschinen sowie eine verstärkte russische Flugabwehr ab Dezember zu einer Beeinträchtigung und schließlich zum völligen Zusammenbruch der Luftbrücke. Für den Heiligabend 1942 werden beispielsweise das Absinken der Temperaturen auf Minus 24° - 30° sowie das Einsetzen starker Stürme, die Schnee vom Boden aufwirbelten und so die Sicht auf unter 100 Meter drückten, berichtet. Im Laufe des Januar 1943 wurde die 6. Armee in zwei Teile gespalten und von jeglicher Versorgung abgeschnitten. Am 31. Januar und 2. Februar 1943 kapitulierten die letzten völlig entkräfteten deutschen Soldaten. Von den ursprünglich etwa 300.000 Soldaten im Kessel wurden im Verlaufe der Schlacht 30.000 bis 40.000 Verwundete ausgeflogen, ca. 100.000 gerieten in Gefangenschaft. Nur 6.000 Soldaten kehrten nach dem Krieg nach Deutschland zurück.


Biografische und situative Einordnung

Die Gefreiten Eberhard, Franz und Paul waren Angehörige der 6. Armee unter Führung von Generalfeldmarschall Friedrich Paulus. Zur Zeit der Einkesselung in Stalingrad war Eberhard 17, Franz 20 und Paul 21 Jahre alt. Paul und Franz sind seit Anfang Januar 1943 in Stalingrad vermisst, Eberhard ist 1944 in Ungarn gefallen. Ihre Briefe richten sich an ihre Eltern und Geschwister.
Der 19-jährige Gefreite Gerhard und der 27-jährige Feldwebel Ernst sind ebenfalls in Russland eingesetzt, von der Belagerung durch die Rote Armee jedoch nicht betroffen. Von der Einkesselung ihrer Kameraden berichten sie ihrer Ehefrau bzw. den Eltern und Geschwistern. Beide sind aus dem Krieg zurückgekehrt.
Die Feldpostbriefe und -karten dieser Soldaten liegen als Transkripte vor. Zwar sind die Dokumente aus dem Kessel nicht repräsentativ für alle eingekesselten Soldaten, können jedoch gleichwohl Einblick in einzelne Schicksale geben. Die Bedingungen, unter denen die Briefe entstanden sind, waren geprägt durch eine katastrophale Versorgungslage. Dies galt insbesondere für die Nachschubversorgung und damit auch die Feldpostübermittlung. So fielen zunächst die herkömmlichen Transportwege wie Bahn und Kraftwagen, später auch die Übermittlung auf dem Luftwege aus. Die Laufzeiten der Briefe und Päckchen verlängerten sich dadurch spürbar. Allein an Weihnachten konnten über zwei Millionen Feldpostsendungen nicht zugestellt werden. Die Tagesrationen an Brot verringerten sich von 200 auf 100 und zuletzt auf 75 Gramm pro Mann. All dies schwächte die Abwehrkraft der deutschen Truppen und lässt zudem Rückschlüsse auf die gesamten Kommunikationsbedingungen "im Kessel" zu.


Die Bedeutung Stalingrads für die nicht unmittelbar Betroffenen

Stalingrad ist auch außerhalb der eigenen, unmittelbaren Erfahrung präsent. Dies schlägt sich in den Feldpostbriefen nieder. Die Relevanz Stalingrads manifestiert sich jedoch nicht in der Quantität der expliziten Erwähnung. Vielmehr zeigt sich das Ereignis qualitativ, d.h. der Kessel von Stalingrad stellt den Hintergrund jeder persönlichen Erfahrung dar. Diese These lässt sich an Briefen aus der Heimat wie auch von der Front verifizieren.

a) Briefe aus der Heimat

Die Darstellung der Ereignisse von Stalingrad nimmt eine eher untergeordnete Rolle ein. So nimmt Irene Guicking nur knapp Bezug auf Stalingrad. Sie äußert sich zwar emotional, verliert sich aber in allgemeinen Aussagen: "[...] mein Wunsch ist es, daß wir aus diesem Kriegsgewühl gesund herauskommen. Du und auch wir zu Hause. Wir sind es all den vielen, vielen Soldaten schuldig, die dort in Stalingrad mitgekämpft haben. Und ganz besonders den vielen Gefallen. Wir müssen ihnen in unseren Gedanken immer ein Andenken bewahren." Das private Wohlergehen und die daraus hervorgehende gestärkte Durchhaltefähigkeit werden von Irene als Verpflichtung den Toten gegenüber angesehen. Hier wird die Verquickung von Privatsphäre und Weltgeschehen in Pflicht- und Solidaritätsgefühl deutlich - drei Monate nach der Kapitulation der deutschen Armee in Stalingrad.
Des weiteren fügt sie Ihrem Brief einen Zeitungsausschnitt über Stalingrad bei. Dies kann als ein Bemühen um Sachlichkeit und in Folge als Distanzierung gewertet werden. Einen sehr viel größeren Raum hingegen nimmt die Beschreibung Irenes persönlicher Lebenssituation ein. Ausführlich schildert sie ihre eigene Zufriedenheit, hier exemplifiert an der ausreichenden Essensversorgung: "Mein Schatz, wenn Du unseren Tisch immer gesehen hättest, dann wärst Du sprachlos gewesen. Und zugleich auch zufrieden, weil Du daraus ersehen könntest, daß es uns sehr gut geht."
Allerdings wirken diese Beschreibungen stellenweise in ihrer Detailfülle zwanghaft idyllisierend: "Weißt Du, die Fleischstücke, die zuviel Knochen hatten, die behielten wir zurück zum sofortigen Gebrauch. Es gab einmal Frikadellen, Fleischsalat, Suppenfleich, also immer etwas anderes. Offen gesagt, ich bin froh, wenn das frische Fleisch nun alles verbraucht ist."

b) Briefe von der Front

In der Wahrnehmung der Soldaten bildet Stalingrad eine Bezugsgröße zur Bewertung der eigenen Situation. Die Soldaten, die Stalingrad nur kurz erwähnen, übertragen das nur durch Gerüchte bekannte, 'abstrakte' Ereignis Stalingrad, indirekt auf ihre persönliche Lebenssituation.
Es lassen sich verschiedene Stufen der Verunsicherung feststellen: - Gefühl von Unordnung: "Nun aber regnet und schneit es heute wieder. Auf den Straßen und Wegen herrscht ein fürchterlicher Dreck, den man sich als Deutscher gar nicht vorstellen kann."
- Leiden unter einem Kommunikationsvakuum: "Hoffentlich ist bei Euch alles in Ordnung. Hebt doch bitte die Zeitung darüber auf. Wir leben hier ja völlig auf dem Mond."
- diffuse bzw. konkrete Bedrohung: "Irgendwo versuchten russische Truppen zu landen, wurden jedoch abgewiesen. Flieger kamen auch am Tage, wahrscheinlich Aufklärer. Auf jeden Fall ist irgendetwas im Gange."

Das "eigene Stalingrad" wird gefürchtet, befürchtet, erwartet.
Wie schlägt sich diese Einschätzung in den Feldpostdokumenten nieder?

Man findet in den Briefen den Glauben an ein Ende des Krieges, wobei Sieg oder Niederlage nicht differenziert werden. Vielmehr kommt es auf ein Überleben und die Rückkehr in die Heimat an. Dies ist die optimistische Haltung, die sich etwa bei Gerhard findet, welcher trotz hörbaren Zweifels am Wahrheitsgehalt von Gerüchten und seiner persönlichen Notlage an die Einnahme Stalin- und Leningrads glauben will: "Gestern ging hier das Gerücht um, Leningrad und Stalingrad seien in unserer Hand und unsere Truppen ständen dicht vor Moskau. Wie schön, wenn das wahr wäre."
Des weiteren zeigt sich eine Transzendierung der Kämpfer von Stalingrad, die als Märtyrer für die Lebenden überhöht werden. Es wird der Eindruck erweckt, als wäre ein Ende Krieges vor der Folie des Stalingrader Opfertodes nahe: "Liebe Hilde, denk nicht, das war umsonst. Diese Menschen haben vielleicht unsere ganze Front (auch uns hier unten) gerettet, dadurch, dass sie große Streitkräfte gebunden haben. Es ist aber furchtbar."
Schließlich zeigt sich, wie auch bei Irene, eine gesteigerte Sehnsucht nach Idylle und kultivierter Zivilisation des Friedens: "Hoffentlich fällt in diesem Sommer die Entscheidung, dann kann ich Weihnachten wieder an Deinen Konzerten teilnehmen."

Trotzdem können Gefühle der verzweifelten Hoffnung nicht über die gleichzeitige Resignation hinwegtäuschen: "Übrigens Essen: Hast Du schon mal Hühnerhabicht gegessen, oder Fleisch von einem prima jungen canis (Hund)? Schmeckt ganz ausgezeichnet, wenn man es nicht weiß." Innerhalb weniger Wochen entwickelt sich der warmherzige Ton von Gerhard zu beißender Ironie und dunklem Zynismus. Derselbe Mann, welcher gerade noch Mitgefühl für den eigenen Vater bzw. für Bekannte gezeigt hat, stumpft ab: "Bei meiner letzten Nachtstreife habe ich auch einen herumstreunenden Hund erschossen. Warum? Weil er ununterbrochen gebellt hat." Man könnte daraus schließen, dass die Archaik beginnt, über die zivilisierte Reflexion zu dominieren. Der Schreibstil weist kurze Parataxen auf sowie hingeworfene, fragmentarische Gedanken.

Die letzte Stufe der Verzweiflung mündet in der Transzendierung von Leid und der Rückkehr zum Gottesglauben, auch begleitet von Reuegefühlen. Die totale Aufgabe jeder Hoffnung auf ein Überleben geht einer ganz neuen Ausrichtung voran, nämlich der Rückbesinnung auf den Gottesglauben und der Hoffnung auf ein endgültiges Aufgehobenssein in der Gnade eines ewigen Gottes jenseits des irdischen Leids, exemplifiziert durch Stalingrads: "Ob ich die Geburt unseres Kindes wohl noch erlebe? (...) Ich befehle Dich und unser Kind der Gnade Gottes. Er möge Euch Schutz und Schild auf Eurem Wege sein."
Zusammenfassend lässt sich sagen: Der Kessel von Stalingrad wird im Rahmen der Feldpostbriefe aus Heimat und von der Front als politisch-militärisches Faktum wahrgenommen. Die Briefpartner tauschen sich über Stalingrad aus. Dabei steht Stalingrad für die Zeitgenossen als implizites pars pro toto für alle Schrecken des Krieges. Die Stalingraderfahrung wird im Zuge der Beschreibung persönlicher Belange und der Reflexion darüber zum biographisch-weltgeschichtlichen Topos, zur Bezugsgröße und zum Anlass enttäuschter und transzendierter Hoffnung.


Die Briefe aus Stalingrad

Im Folgenden sollen nun zwei Soldaten ähnlichen Alters zu Wort kommen, die die Einkesselung in Stalingrad erlebt haben, aus deren Briefen Ausschnitte hier chronologisch nebeneinander gestellt werden. Was überraschen mag, ist, dass noch bis Januar 1943 aus subjektiver Sicht die Versorgungslage und die psychische und physischen Verfassung als zufriedenstellend empfunden wurden.

Paul, 11.08.: Vorgestern und gestern hörte man im Radio von dem großen Vormarsch im Kaukasus und ich wäre gern dabei gewesen. Bald wird Stalingrad fallen und da bin ich sicher dabei!

Franz, nach dem 31.10.: Wintersachen schickt mir keine mehr. Wir haben jetzt Handschuhe empfangen so gut bekommt man zuhause keine mehr zu kaufen. Adolf Hitler wird schon für seine Truppen im Winter sorgen.
Franz, 03.11.: Die Stimmung und der Humor und die Küche sind immer noch auf der Höhe.

Paul, 15.11: Anfang Dezember fahre ich in Urlaub!
Es geschehen noch Zeichen und Wunder!
Erwartet mich etwa um den 10.12. in Köln. Hoffentlich sind alle da!
Wir feiern also Weihnachten 1942/43 zusammen!
Hoffentlich kommt nichts dazwischen! Urlaubsdauer 21 Tage.

Franz, 20.11.: Mit der Politik machen wir uns nicht viel Sorgen, hier werden wir jedenfalls die Front halten und an Frieden glaube ich noch lange nicht. Der Russe ist auch schon gut auf den Hund gekommen. Wir sind da auf jeden Fall noch besser dran. Bei uns klappt alles Verpflegung, Nachschub Winterbekleidung etc. Die Russen werden bei Stalingrad abgeschossen wie die Spatzen. Die können sich bei Tage überhaupt nicht sehen lassen. Da sind unsere Jäger zuviel dahinter […] Die Verpflegung ist sehr gut und reichlich. Wir bekommen jetzt wieder mehr Brot und auch mehr Schmiere. Du hast mir den Pullover und die Weste geschickt und darüber habe ich mich nicht gefreut, sondern geärgert. Ich weiß jetzt nicht, wie ich die Sachen wieder nach hause bekomme […] Ich hab ja hier jetzt alles was ich will und wir liegen in schönen warmen Bunkern. Der Krieg geht auch mal vorbei.

Paul, 29.11.: Gestern kam etwas Post, und für mich war ziemlich viel dabei. Von Rosel kam ein Kilo-Päckchen mit einem Ärmelpullover, einem Heftchen und Gebäck. Ich danke Dir, liebe Schwester, aber macht um Gottes Willen Schluss mit den Wintersachen! Ich bin ausgerüstet wie zu einer Polarexpedition!

Franz, 17.12.: Wir essen jetzt immer viel Pferdefleisch. In Rußland lernt man noch alles essen Ölsardinen und Fisch kann ich auch essen. Schmalz - wäre ich froh, wenn ich mal was hätte. Die Verpflegung soll ja jetzt bald wieder besser werden. Post ist ja schon etwas gekommen, wenn auch nur Briefpost. Wo Briefpost kommt, kommt auch andere Post. Vielleicht heben sie die auch auf für Weihnachten. Morgen gibt es eine Rippe Schokolade. Gesundheitlich geht es mir sehr gut was ich auch von Euch hoffe.

Paul, zwischen Weihnachten und Neujahr: Ein kleines Büchlein ist hier so wertvoll wie ein Brief aus der Heimat, man hungert danach! Bisher habe ich so etwas noch nie gekannt!

Franz, 02.01. an die Mutter: An Urlaub ist ja noch lange nicht zu denken, aber ich habe eine große Bitte. Schick mir keine Feldpostpäckchen mehr bis ich Euch was schreibe. Im Winter sind hier unruhige Zeiten und da ist es zu schade wenn die Post verloren geht. Mache Dir auch keine unnötigen Sorgen über mich. Wir liegen hier noch immer an derselben Stelle wie sonst und da kommt der Russe so leicht nicht durch. Ich bin jetzt der jüngste von der ganzen Batterie. Die Vorgesetzten können mich alle sehr gut leiden und mit den anderen Kameraden vertrage ich mich auch sehr gut. Mit dem Essen komme ich aus. Es ist nicht gerade reichlich, aber sehr gut. Wir bekommen fast jeden Abend Drops und Butter bei der kalten Verpflegung. Ich bin jetzt mit einem Uffz. auf V.B., das ist ein ganz prima Kerl und wir haben den ganzen Tag Unterhaltung. Einen Ofen und Holz haben wir auch und genug zu lesen. Mit dem Funkgerät kann man auch Nachrichten hören und Musik und alles. Man darf es ja eigentlich nicht, weil man Batterien sparen soll […] Da war so ein Schneesturm gewesen und ich habe allein nur mehr den Weg gewußt. Ich wundere mich manchmal selbst, wie gut ich mich zurecht finde. Verlaufen tu ich mich so leicht nicht mehr. Das mir auch sonst mal was passieren würde, daran denkt man gar nicht […] Das Rauchen hab ich mir wieder abgewöhnt. Ich bin so gesund wie noch nie und da will ich mich nicht dadurch krank machen […] Du fragst mich, ob wir viel Verluste hätten. Die sind ganz gering. Unsere Feuerstellung ist 7 km hinter der Front und die werden höchstens durch die Flieger bedroht und dagegen ist sie sehr gut getarnt so, daß die Flieger sie kaum finden. Der Uffz. Fischer, der das letzte mal mit mir auf V.B. war ist im Hauptverbandsplatz gestorben. Sonst ist die ganze Zeit nichts mehr vorgekommen. Krank werden ja immer mal welche und das würden sie ja sonstwo auch.

Franz, 02.01.: Päckele sind lange keine mehr gekommen, die Verpflegung ist nicht mehr so reichlich aber sehr gut und immer noch genug.

Paul, 05.01. (Letztes Lebenszeichen): Sorgen braucht Ihr euch wegen mir bestimmt keine zu machen, es geht mir weiterhin nicht schlecht und in Bälde sicher noch besser […] Sonst habe ich Euch heute nichts zu berichten, was erwähnenswert wäre, selbst das, was ich verschweigen muss, ist nichts Nennenswertes. Seid froh und guter Dinge, so wie ich, hört nicht auf Gerüchte, zum Sorgenmachen ist kein Grund und dass ich keine Post habe, ist Zufall, denn andere haben Nachricht von zu Hause.

Pauls Bruder Eberhard schreibt am 20.01. aus Köln an seine Schwester: Unser Bruder Paul hat in den letzten Tagen sehr eifrig Post ankommen lassen. Anbei die 3 letzten Briefe. Bring sie doch alle wieder mit nach Köln, wenn Du hierher kommst! Die Briefe steigen ständig im Wert, wo es doch so bitterernst um Stalingrad steht.

Franz, 07.01. (Letztes Lebenszeichen): Der Russe hat hier auch schon sehr viel angegriffen, hat aber noch nichts erreicht. Jetzt ist er ziemlich ruhig. Man hört nur ab und zu MGfeuer, ungefähr wie auf dem Grüneberg und viel näher. Heute auch mal zur Abwechslung etwas Granatwerferfeuer. Was machst Du denn zuhause ? […] Was hast Du zu Weihnachten bekommen und was hat die Mama zu Weihnachten von mir gesagt. Hat sie geheult oder nicht. Ich habe bald geheult. Habt Ihr Weihnachten abends gefeiert oder erst am anderen Morgen. Wie ist das Wetter. Hier ist es im Augenblick sehr schön. […] Und wenn Du auch mal mittags was zu essen bekommst was nicht so besonders gut schmeckt. Du kommst nicht bei die Soldaten, wo man Dir das abgewöhnen kann. Wir können hier uns noch nicht einmal richtig satt essen. Wir sind froh, wenn wir überhaupt was bekommen dann ist es egal was. Zuhause hast Du noch alles, aber Du kommst auch mal bei fremde Leute.

Fazit

Aus der Sicht derjenigen, die Stalingrad nicht als Eingekesselte erlebt haben, sondern die an anderen Frontabschnitten kämpften oder diese Entwicklung in der Heimat verfolgten, dient das Schicksal der Eingeschlossenen als Gerüst dafür, ihre eigene Lebenssituation nach Stalingrad einzuschätzen und neu zu bewerten. Im Gegensatz dazu thematisieren die Eingekesselten ihre vermeintlich lebensbedrohende Situation nicht, ja scheinen sie nicht einmal als eine solche wahrzunehmen. In den Briefen spiegeln sich vielmehr erstaunlich lange Zufriedenheit mit den gegebenen Umständen wie zum Beispiel der Versorgung mit Nahrung und Kleidung.
Dieses Resultat ist bezeichnend für die Art der Erkenntnis, die man aus Feldpostbriefen ziehen kann, zeigt sie sich doch als eine relativierende und erweiternde.

Die Beschäftigung mit den Feldpostbriefen ermöglicht mithin einerseits eine differenziertere Sichtweise auf historische Situationen - wie hier die Einkesselung von Stalingrad als "konventionelle" Geschichtsschreibung. Andererseits stellen derartige Dokumente einen anderen Anspruch an die Methode ihrer Erschließung, da sie auch auf einer emotionalen Ebene wahrgenommen werden. Hierdurch treten die geschilderten Ereignisse wesentlich plastischer hervor und können intensiver erinnert werden. Dennoch wirft dieser andere Blickwinkel auf Geschichte neue Fragen auf.