Feldpost im Zweiten Weltkrieg
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Tobi Dahmen: Columbusstraße

Eine Familiengeschichte 1933-1945

Verlag: Carlsen in Hamburg
Erschienen: 29. Mai 2024
Hardcover, Umfang: 528 Seiten
Größe: 173 mm x 245 mm
ISBN: 978-3-551-79663-9
Lesealter: ab 12 Jahren
Preis: 40,00 € (D) | 41,20 € (A) | 58,00 CHF (CH)

Der Titel "Columbusstraße" steht für ein Haus in Düsseldorf, in dem die Großeltern des Autors mit ihren Kindern gelebt haben. Hier ist das Zentrum der Geschichte. Es ist der Ausgangspunkt der Figuren, die weggehen, aber immer wieder in Verbindung treten. Es ist die Adresse, an die die Briefe adressiert sind. Das Haus hat den Krieg unbeschadet überstanden und ist damit eine Konstante in der Graphic Novel, um die sich alles kreist.

Graphic Novels sind gezeichnete Geschichten. Dies ist nicht zu verwechseln mit Comics. Sie sind weder komisch oder lustig, noch ist die anvisierte Leserschaft minderjährig. Die Novels stehen eher in der Reihe von Art Spiegelmans "Maus - Die Geschichte eines Überlebenden". Einer Geschichte aus dem Holocaust, das ähnlich wie hier, die Erinnerungen des Vaters aufgreift, um die Geschichte zu erzählen. Hier wie da geht es um die Erinnerungen der selbst erlebten Geschichte.

Familiengeschichten lassen sich aus Feldpostbriefen sehr gut rekonstruieren. Die Betroffen kommen selbst zu Wort und zwar genau so, wie sie es seinerzeit aufgeschrieben und gesendet haben. Sie standen oft noch unter dem Eindruck des Erlebten. Dies hat nichts zu tun mit Wahrheit und Wirklichkeit, sondern mit subjektiver Sichtweise. Was jemand in einem Feldpostbrief schreibt ist auch beeinflusst durch den Empfänger. Natürlich würde man an seine Eltern anders und anderes schreiben als an Kumpels.
Die Graphic Novel kann das berücksichtigen, indem ein Brief mit Bildern kontrastiert wird. Tobi Dahmen bietet bisweilen unterschiedliche Puzzelstücke an, wobei jedes passen könnte. Hier zeigt sich, dass das Medium sehr eigene Möglichkeiten hat, mit dem Problem der Wahrheit umzugehen.

"Diese Geschichte basiert auf den Erzählungen aus meinem Familienkreis, darüber hinaus auf Briefen, Dokumenten und Fotos. Die Wiedergabe davon ist meine Interpretation der Ereignisse. Die Fehler in den Briefen und Interviews habe ich absichtlich so belassen, es sei denn sie würden den Lesefluss allzu sehr stören." (S. 528)

"Außerdem habe ich noch viele Orte besucht, an denen sich alles abgespielt hat. Besonders war, dass ich sowohl das Haus meiner Großeltern besuchen konnte sowie das Haus des Villingener Münsterorganisten, bei dem mein Vater untergebracht war, um ihn vor den Bombenangriffen zu schützen. Angefangen zu zeichnen hab ich dann im Januar 2020, kurz bevor Corona begann. So konnte ich mich während dieser Zeit zwar abends gut beschäftigen, auf der anderen Seite war es schwierig, Recherchereisen zu machen oder Archive zu besuchen. Ich hätte beispielsweise gerne noch mehr im Militärarchiv in Freiburg recherchiert, ob ich da noch etwas zu meinen Onkels gefunden hätte, aber dazu ist es nicht mehr gekommen. Die Recherche geht natürlich weiter, das Thema interessiert mich ja weiterhin. Wir haben beispielsweise noch kurz vor Drucklegung eine neue Entdeckung des Stadtarchivs Wesel eingebaut." (https://www.carlsen.de/comics/columbusstrasse-comic/tobi-dahmen-ueber-columbusstrasse)

Es wird viel darüber diskutiert, wie viel man schreiben durfte, und was nicht. Jeder Brief wurde sicherlich nicht gelesen und zensiert. Dafür waren es einfach zu viele. Es gibt zahlreiche Briefe, die explizit beschreiben, was die Deutschen dort anrichteten. Es gibt ja auch zahlreiche private Fotos davon. Ich denke, meine Onkels haben einerseits mit manchen Informationen hinter dem Berg gehalten, weil meine Großmutter sich sehr viel Sorgen um sie machte, und sie sie in dieser Sorge nicht auch noch bestätigen wollten. Mein jüngerer Onkel Peter schrieb schon deutlicher über das, was er erlebt hat. Mein Onkel Eberhard wollte sich vielleicht auch nicht kritisch äußern, weil er eine Offizierskarriere anstrebte. Meine persönliche Interpretation ist, dass er das wollte, um aus der Schusslinie zu kommen. Er war dem Krieg schon allein körperlich kaum gewachsen.
Es sind also Schutzmechanismen für sich selbst und andere. Auf der anderen Seite wollte ich natürlich abbilden, was sich dort abgespielt hat und nichts beschönigen. Eine wichtige Quelle war das Buch „Wehrmacht im Ostkrieg” von Christian Hartmann, das mehrere typische Divisionen untersucht hat, und eben auch, wie viele Kriegsverbrechen sie gesehen haben dürften oder ob sie an welchen beteiligt waren. Eberhards Einheit war eine der Studienobjekte. Aber natürlich ist auch der Zeitpunkt entscheidend, wann waren sie wo? Am Ende bleiben aber viele Fragen. Es gibt immer mehrere Optionen, wie etwas abgelaufen sein könnte. So etwas hab ich dann mit verschiedenen Puzzleteilen inszeniert. Dass beide aber ein Teil der 'Exekutive' eines überaus verbrecherischen Regimes waren ist natürlich eindeutig.

Das Mantra der Nachkriegszeit ist ja gewesen: wir haben es nicht gewusst. Wie viel Deutsche von den Vernichtungslagern im Osten wussten, darüber wird immer viel diskutiert. Mit diesen Szenen wollte ich aber zeigen, dass natürlich jedem klar sein musste, wie die jüdische Bevölkerung, mit der sie eben noch Tür an Tu¨r gewohnt haben, behandelt wurde. Wie viele Menschen verschwanden. Und Zwangsarbeiter*innen waren eben allgegenwärtig, ausgemergelte Gestalten, die die Bombenschäden aufräumen mussten, und bei Alarm nicht in die Luftschutzbunker durften. In so vielen Betrieben waren Zwangsarbeiter*innen beschäftigt, vom Bauernhof bis zur Rüstungsindustrie, der mein Großvater mütterlicherseits zugearbeitet hat.
Die Umstände in den Außenlagern, in denen die Zwangsarbeiter*innen untergebracht waren, waren verheerend, am schlimmsten wohl in den ersten Kriegsjahren. Und teilweise befanden sich diese Lager mitten in der Stadt. Man konnte also wirklich nicht behaupten, man hätte von diesem Unrecht nichts gewusst. Darum wollte ich diesen Aspekt auf jeden Fall abbilden. Außerdem ist es kein Zufall, dass die Wannsee-Konferenz so kurz nach der Niederlage der Wehrmacht vor Moskau einberufen wurde. Der Holocaust war ein Kriegsziel. Ich hätte es grundfalsch gefunden, darauf nicht auch noch einzugehen. Auch wenn der Holocaust in den Erzählungen meiner Familie kaum vorkommt, wie leider in den meisten deutschen Familienchroniken nicht.

Vielleicht macht mein Buch es der/dem einen oder anderen Leser*in einfacher, sich mit unserer Geschichte zu befassen, ohne dicke Geschichtsbücher zu wälzen, vielleicht ist meins ein wenig niedrigschwelliger. Und im Anhang erfährt man in kompakter Form noch mehr zu den politischen und familiären Hintergründen der Geschichte. Gleichzeitig möchte ich damit jeden ermuntern, sich mit der eigenen Familiengeschichte zu beschäftigen. Und in der eigenen Familie Fragen zu stellen, und sich darüber zu unterhalten. Es verbindet uns am Ende. In meinen jungen Jahren habe ich mich da auch noch nicht so sehr für interessiert, man dreht sich ja vor allem um sich selbst. Wie kostbar diese Aufnahmen für mich wurden, hab ich erst später gemerkt. Und sie trösten auch, wenn plötzlich der alte MP3-File wieder in meine Playlist gespült wird und mein Vater wieder mit mir spricht. Heute ist es noch viel einfacher, jeder hat mit seinem Smartphone ein ziemlich gutes Aufnahmegerät in der Tasche.
Und ich würde mir wünschen, dass wir uns realisieren, was wir erreicht haben seitdem. Und wie kostbar das ist, dass wir alle gefragt sind, unsere Demokratie zu beschützen. Ehrlich gesagt war auch die sogenannte „Flüchtlingskrise“ von 2015 ein motivierender Faktor. Ich war entsetzt zu sehen, wie wenig Empathie da vorhanden war, nur ein Menschenleben später als es Millionen von Flüchtlingen gab, innerhalb von Deutschland. Ich verstehe einfach nicht, wie wir so vergesslich werden konnten. Und dagegen möchte ich etwas tun, mit meinen Mitteln. Und wir sollten bei all unseren Entscheidungen, gerade vor Wahlen auch immer bedenken, dass wir für unsere Kinder mitentscheiden, die das noch nicht dürfen. An Aktualität mangelt es ja gerade nicht, wir sehen jeden Tag was Krieg anrichtet. Wohin Nationalismus und Ausgrenzung führen. Der Jahrgang der Soldaten, der die meisten Opfer im Zweiten Weltkrieg verzeichnete, war der Jahrgang 1921, der Jahrgang meines Onkels Eberhard. Wie gesagt, ich kann mir vorstellen, dass er lieber etwas anderes im Sinn hatte als bei diesem Terror mitzumachen. Aber er war 1933 erst 12 Jahre alt.