mit einer Einleitung von Thomas Jander
trafo verlag 2009, 260 S., zahlr. Abb.,
ISBN 978-3-89626-760-3,
39,80 EUR
1941 wird der Berliner Abiturient Hans Stock zur Wehrmacht eingezogen. Zunächst als Angehöriger der Luftwaffe in der Nähe seiner Heimatstadt, wird er nach der Niederlage bei Stalingrad zum Heer versetzt und dann Besatzungssoldat in Belgien, wo er sich trotz anregender kultureller Erfahrungen in der Männergemeinschaft Wehrmacht stets unwohl fühlt. Die Grausamkeiten des Krieges begegnen ihm bei der Partisanenbekämpfung auf dem Balkan. Stock beschließt, nicht demütig auf das Ende des ihm so verhassten Krieges zu warten. Er beendet ihn für sich autonom, individuell und eindeutig: er desertiert beim Einsatz in Italien nach der Schlacht um Monte Cassino.
Der Band dokumentiert die Briefe Hans Stocks vom Fronteinsatz und nach seiner Desertion aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft und solche, die er aus der Heimat von der Familie erhielt. Zusammengenommen ergeben sie eine spannende Korrespondenz nicht angepasster Briefeschreiber.
In der umfangreichen Einleitung des Bandes erzählt Thomas Jander die Biographie Hans Stocks.
Die Feldpostbriefe eines Deserteurs der Wehrmacht zu lesen, ist eine an sich schon spannende und außergewöhnliche Angelegenheit. Die Briefe des Deserteurs Hans Stock, eines 21-jährigen Berliners sind aber nicht nur durch den Umstand der Desertion besondere Dokumente, sondern sie sind obendrein höchst lesbare und gut erzählte Lebens- und Erfahrungsberichte.
Stock wuchs in einer Familie auf, die dem Nationalsozialismus und vor allem dem Krieg ablehnend gegenüberstand. Die Familie, der Vater war trotz seines Berufs als Gymnasiallehrer für Kunsterziehung nie Mitglied der NSDAP, befürchtete seit Januar 1933: "Hitler bedeutet Krieg und Hans wird Soldat." In einem dem Geschehen der Zeit kritisch gegenüberstehenden Umfeld wuchs Hans Stock zu einem unangepassten Individualisten heran. Er war kein politischer Aktivist, sah sich von keiner im Untergrund operierenden Partei angezogen, kämpfte keinen Widerstand. Er wollte schlicht sein Leben leben, wie er es für richtig hielt. So oft er konnte, drückte er sich vor den Gemeinschaftsnachmittagen und Militärspielen der Hitlerjugend. Stock war zwar nie unbeliebt unter den Jungen und Mädchen in seiner Umgebung, er war sogar geachtet, ob seines Witzes und seiner scharfen Zunge, die nicht selten zu einer Art jugendlich-altklugen Sarkasmus neigte, doch er blieb ein einzelgängerischer Typ, ein Sonderling. Künstlerisch durch die Familie vorbelastet - auch die Mutter war Malerin - zeichnete er in seiner Freizeit. Seine wahre Leidenschaft aber war das Fotografieren.
Stock legte 1940 das Abitur ab und musste sich fortan dem vormilitärischen Drill, dem Gemeinschaftszwang und den Strapazen des Reichsarbeitsdienstes unterwerfen. 1941 erreichte ihn der Gestellungsbefehl zur Luftwaffe. Grundausbildung und erster Dienst war, in/bei Berlin. Gute persönliche Beziehungen der Eltern zu einem Luftwaffenmajor ermöglichten die Versetzung von Stock zur Hauptfilmstelle der Luftwaffe. Dort konnte er als Kameraassistent arbeiten, was seinen Fähigkeiten und Neigungen sehr entsprach. Immer wieder sollte in der Folgezeit die Hoffnung auf eine mögliche Rückkehr dorthin, Stocks Fluchtpläne hinauszögern.
Nach der Kapitulation der 6. Armee bei Stalingrad wurde Stock im Zuge der Neuaufstellung jener Verbände zur 44. Infanteriedivision kommandiert und damit Teil einer ursprünglich österreichischen Traditionseinheit, die von Hitler als Ehre den Namenszug Hoch- und Deutschmeister verliehen bekam. In Belgien, dem Ausbildungsraum der Division, bekam Stock zum ersten Mal den Drill und die Schikanen der Erziehung in der Infanterie, sowie die Rohheit und Willkür der Unteroffiziere zu spüren. Hier setzt auch der Briefwechsel ein, den Stock mit seinen Eltern, in der Hauptsache aber mit seiner Mutter, führte. Gerade das ungewöhnlich offene und zwanglose Verhältnis dieser beiden Schreiber hat der Nachwelt eine Korrespondenz beschert, die trotz aller (mütterlicher) Vorsicht und Mahnungen, sehr charakteristische, aufschlussreiche und erhellende Einblicke in das Wehrmachtsleben, das Berliner Alltagsleben im "Totalen Krieg" und in die beiderseitige Abneigung gegen Krieg und Nationalsozialismus geben. Hinzu kommt, dass Stock ein begnadeter Briefschreiber war, der mit Witz und Ironie, oft drastischen Formulierungen und vor allem ehrlichen Gefühlen, sein Leben und seine persönlichen Ansichten festhält. Er wollte dabei nicht nur seinen Eltern zeigen, wie es ihm geht, was er denkt und fühlt, sondern auch für sich selbst ein Zeitzeugnis hinterlassen, das ihm, der sich scheinbar immer sicher war, dass er aus dem Krieg heimkehren würde, ermöglichen sollte, sich an all die - womöglich vergessenen Erlebnisse - zu erinnern. Der Kontakt riss auch nach der Gefangennahme Stocks nicht ab. Über die offiziellen Kanäle der Kriegsgefangenenpost korrespondierte er bis zu seiner Freilassung mit seinen Eltern.
Stocks Kriegseinsatz begann mit der Kapitulation Italiens im August 1943. Stocks Division nahm Teil an der Entwaffnung der italienischen Armee und wurde anschließend in die Berge Sloweniens und Kroatiens verlegt, um dort Jagd auf Partisanengruppen zu machen. Dabei erlebte Stock, wie brutal sich die Wehrmacht gegenüber der einheimischen Zivilbevölkerung verhielt. Die Briefe aus dem Partisaneneinsatz sind daher besonders eindrucksvoll, weil sie schonungslos wie kaum andere Briefe mit Scham und Abscheu von diesen verbrecherischen Taten Zeugnis ablegen. Mit der Verschlechterung der militärischen Lage für die deutschen Truppen wurde auch die 44. Infanteriedivision in die Gegend um das alte Benediktinerkloster auf dem Monte Cassino verlegt. Stock nahm damit ab Januar 1944 an einer der mörderischsten Schlachten des Zweiten Weltkrieges teil. Ganze Felsformationen wurden durch den ungeheuren Einsatz von Artillerie und Bombern buchstäblich pulverisiert. Aus dieser höllischen Schlacht, die sich viele Monate bis zum Spätsommer 1944 hinzog, desertierte Stock Anfang Februar und begab sich in amerikanische Gefangenschaft.
Nicht allein die Tatsache, dass Stock seine Flucht in Italien vollzog, sondern auch die Art, die Truppe weiterziehen zu lassen und einen eigenen Weg einzuschlagen, allein durch eine verwüstete Welt zu schleichen, in einem Bauernhaus auf den Morgen und die rettenden Amerikaner zu warten, erinnert stark an das erste literarische Zeugnis eines Wehrmachtsdeserteurs überhaupt: Alfred Anderschs Die Kirschen der Freiheit.
Auf dem Buchmarkt gibt es kaum Zeugnisse von Deserteuren. Neben dem Buch von Andersch wären noch die autobiographisch geprägten Texte von Erwin Strittrnatter Der Wundertäter und von Gerhard Zwerenz Das Großelternkind und Vergiß die Träume Deiner Jugend nicht zu nennen. Zum Thema Desertion gibt es in Bezug auf Deutschland nur einige wenige (populär)wissenschaftlich oder juristisch geprägte Titel. Das Thema Feldpost eines Deserteurs ist auf dem deutschen Buchmarkt völlig neu. Ohnehin ist das Thema Desertion in der BRD heftig umstritten und seine Aufarbeitung war lange Zeit tabuisiert. Die NS-Urteile gegen Wehrmachtsdeserteure wurden erst 2002 durch den Bundestag aufgehoben. Das Buch wird folgerichtig einen wichtigen Beitrag zur andauernden Diskussion des Themas bilden.
Die Korrespondenz zwischen Hans Stock und seinen Eltern umfasst beinahe 200 Briefe von Hans Stock sowie mehr als 250 Briefe an ihn. Publiziert werden in dem Band in erster Linie die Briefe von Hans Stock. Zur Erhellung von Beweg- und Hintergründen etc. sollen aber auch ausgewählte Briefe an ihn einbezogen werden. Die Briefe werden vollständig abgedruckt und folgen in Orthographie und Grammatik den Originalen.