Feldpost im Zweiten Weltkrieg
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Daniel Doll: Feldpostbriefe als familiengeschichtliche Dokumente

Einleitung

Die Chance, ein familiengeschichtliches Dokument, das gleichzeitig Zeitgeschichte berührt, zu untersuchen, verdankt sich einem traurigem Umstand: nach dem Tod meiner Großmutter väterlicherseits fanden sich Dokumente, die niemandem in der Familie bekannt waren. Diese wurden im Familienkreis durchgesehen,und sind so auf mich gekommen. Bei den für meine Arbeit relevanten Dokumenten handelt es sich um:

Die drei handgeschriebenen Briefe sind transkribiert und im Anschluss daran kurz zusammengefaßt. Damit deutlich wird, zwischen welchen Personen der Briefwechsel stattfand, habe ich kurze Angaben über meinen Großonkel, den Schreiber, und meine Großmutter, die Adressatin, gemacht. Im Zeitraum der drei Briefe diente Joseph Eldracher auf den Schlachtschiffen "Scharnhorst" und "Tirpitz". Ich hielt es für angebracht, eine Kurzbeschreibung der beiden Schiffe zu geben. Im Anschluß daran folgen die Interpretationen der Briefe. Da der Briefwechsel nicht im geschichtslosen Nirgendwo stattgefunden hat, sondern zwischen 1940 - 1943, ergab sich die Notwendigkeit, zwei Exkurse einzufügen: zum einen über die Schlachtschiffe "Scharnhorst" und "Tirpitz", zum anderen über die Frage der Frau im Nationalsozialismus.

Brief 1/Q 1
Zeile
An Bord, 23.II.40.
Liebes (schlechtes) Schwesterchen!
Euer Packchen haben wir, wie ich Dir schon geschrieben habe erhalten. Du hättest mal sehn sollen als ich es auspackte.
5
Wir sind alle aufs Kreuz gefallen. Sehr Orginell waren ja die Pflaumen. Sage aber Deinen Kolleginnen, wenn Ihre Pflaumen auch so verschrunzelt waren, dann wäre aber nicht viel damit anzufangen. So etwas ist bei uns noch nicht vorgekommen. Das war eine einmalige Ausgabe. Aber wenn wir Euch was schicken, dann braucht Ihr 10
aber nicht rot zu werden. Da könnt Ihr Euch drauf verlassen. Liebe Elsa. Nimm Dich vor dem Herzensbrecher in Acht. Der ist sehr gefährlich. Der würde Dein Herz brechen wie man eine Rose bricht. Aber bei Dir kann man ja nicht Rose sagen sondern
Distel ! ! ! !
15
Nun haben wir beschlossen einer jeden von Euch einen Wunsch zu erfüllen.Sage das Deinen Kolleginnen. Aber bloß nichts unmögliches. Wir können nicht wegen einem Wunsch für eine Stunde nach Mannheim kommen. Du weißt wohl was ich meine. Also Vorschläge.
Nun will ich schließen u. hoffe, daß Ihr bald wieder etwas von
20
Euch hören laßt. Sei recht herzlich gegrüßt von Deinem
Brüderlein
Gruß an den Klub der
Unge_ _ _ _ _ _ ??
25
Gruß an Gack - Gack !
Erzähle bloß nicht soviel von mir.

 

Brief 2/Q 2
Zeile
An Bord, 20.Aug.43.
Liebe Elsa!
Heute habe ich Deinen Brief erhalten und gestern erhielt ich daß Packchen mit der Wurst, dem Natron. u. dem Maggi.
5
Recht herzlichen Dank dafür. Die Mitteilung, daß Du schon am 28. Aug. heiratest, hat mich ja etwas überrascht. Ich dachte, es wäre etwas später. Nun habe ich es es die letzten paar Tage erfahren u. hinterher kriege ich wieder Vorwürfe ich wäre ja schreibfaul gewesen. Der Brief geht nun wieder 10-14 Tage u. dann ist die Hochzeit vorbei. 10
Leider ist es mir unmöglich zu kommen, das müßt Ihr verstehen. Wie gerne wäre ich an diesem Deinem schönsten Tag zuhause bei Euch, aber es geht nun mal nicht. Denkt mal an diesem Tag ein bischen an mich dann bin ich schon damit zufrieden. Nun wünsche ich Dir zu Deiner Ehe alles Glück u. allen Segen, den man einem lieben Menschen 15
wünschen kann. Mögest Du die Erfüllung Deines Lebens finden als Frau und Mutter. Du darfst nun nicht sagen, jetzt ist Krieg da will ich keine Kinder, sondern gerade jetzt wo so viele junge Männer ihr Leben opfern ist es doppelt nötig. Ich bin gerne beim ersten Jungen Petter. Du hast viel nachzuholen, nun mal ran ans Gewehr. Wenn ich mal 20
auf Urlaub komme daß ich was zum spielen habe.
Leider kann ich Dir nicht das geringste schenken, weil wir ja am Ende der Welt sind. Noch nicht mal Blumen gibt es hier. Aber das werde ich später nachholen. Nun grüße Anton recht herzl. Von mir u. auch ihm wünsche ich alles Gute.
25
Mit den besten Wünschen schließe ich nun mein Schreiben u. grüße Dich so wie Pappa u. Mamma recht herzlich Dein
Bruder
Joseph

 

Brief 3/Q3
Zeile
An Bord,10.Okt. 43.
Liebe Elsa !
Deinen Brief mit den Bildern habe ich erhalten, wofür ich Dir recht herzlich danke.Du gefällst mir auf den Bildern ganz gut.
5
Auch meinen Kameraden fanden Dich sehr nett. Aber weißt Du was so ein Spötter sagte,: an anderen Tagen hast Du bestimmt anders ausgesehen. Na ich glaube er auch. Wie dem auch sei, die Hauptsache ist, daß Du nun glücklich bist. Es ist ja nur schade, daß Du nichts kaufen kannst. Wie schön könntest Du Dich jetzt einrichten. Dafür 10
arbeiten u. kämpfen wir. Mir geht es so weit noch gut was ich auch von Dir hoffe. Nun möchte ich Dir zu Deinem 26. Geburtstage die herzl. Glückwünsche senden. Feiere den Tag so, wie er gefeiert werden will u. muß. So ein kleiner Schwips gehört doch dazu. Na wenn ich mal wieder auf Urlaub komme u. es ist noch etwas da, dann wird 15
einer über die Brust gewälzt. Allzulange wird das wohl nicht mehr dauern. Hoffen wir das beste.
Für heute weiß ich nun nichts mehr u. will damit mein Schreiben beenden. Sei Du nun recht herzl. gegrüßt von Deinem
Brüderlein
20
Joseph

Paraphrase der Briefe 1-3

Brief 1 vom 23.2.1940
Adressatin: Elsa Eldracher
An die Fabrik "Felina"

Der Schreiber Joseph Eldracher (J.E.) bedankt sich bei seinem "lieben (schlechten) Schwesterchen" für ein Paket. Es scheint so zu sein, dass J.E s Schwester und einige Kolleginnen der Korsettfabrik "Felina" Pakete an die Kammeraden von J.E. auf die "Scharnhorst" verschickt hatten. J.E. s Päckchen enthielt sogar Pflaumen.

Brief 2 vom 20.August 1943
Adressatin: Elsa Eldracher
Grabenstraße 9
Heddesheim/Baden

J.E. bedankt sich für das erhaltene Päckchen mit Wurst, Natron und Maggi. Er ist über den Hochzeitstermin (28. August) seiner Schwester sehr überrascht, da er von einem späteren Termin ausgegangen war. Er beglückwünscht das Paar zur Eheschließung. Jedoch bedauert J.E. an diesem Termin nicht zu Hause zu sein, und dass er noch nicht einmal etwas schenken kann: "Noch nicht mal Blumen gibt es hier"(Q2,Zeile 23). Er bietet sich als Taufpate für den ersten Sohn an. Ausgehend von der Unterstellung, dass seine Schwester in der Tatsache des Krieges einen Hinderungsgrund sehen könnte, Kinder zu zeugen, argumentiert er mit der gegenteiligen Ansicht, "gerade jetzt wo so viele junge Männer ihr Leben opfern ist es doppelt nötig"(Q2, Zeile 18 f) und dass es an Ihr sei dazu beizutragen, die Verluste wettzumachen.

Brief 3 vom 10. Oktober 1943
Adressatin: Elsa Doll
Grabenstraße 9
Heddesheim/Baden

J.E. bedankt sich für die erhaltenen Bilder (vermutlich von der Hochzeit) Er konstatiert, dass das junge Paar keinen Hausstand gründen kann. Es gibt nichts zu kaufen. Er tröstet seine Schwester jedoch mit dem Ausblick auf eine bessere Zukunft "Dafür arbeiten u. kämpfen wir" (Q3, Zeile 11). Er sagt, dass es ihm noch gut geht und gratuliert seiner Schwester zum 26. Geburtstag. Er hofft auf baldigen Heimaturlaub.

Der Schreiber

Der Autor der Briefe an Elsa Eldracher (ab Brief3/Quelle3 Elsa Doll) ist ihr Bruder Joseph Eldracher. (J.E.)
J.E. ist am 9. November 1918 (Scheidemanns Ausrufung der Republik) in Heddesheim bei Mannheim als Sohn des Schlossers Karl Eldracher und der Elisabetha Eldracher (geb. Gerstner) geboren.
Nach Abschluß der Volksschule absolvierte er eine Ausbildung als Elektroinstallateur. Nach der Ausbildung meldete er sich beim Reichsarbeitdienst. Ab November 1937 entschied er sich freiwillig für den Wehrdienst bei der Marine. Nach dortiger zweijähriger Ausbildung kommt er am 7. Januar 1939 auf das Schlachtschiff "Scharnhorst", das er am 19 April 1941 wieder verläßt. Am 28. August 1941 wird er auf das Schlachtschiff "Tirpitz" abkommandiert. Im März 1942 wird ihm das "Eiserne Kreuz II. Klasse" verliehen. In den Jahren 1938 bis 1943 wird er vom Maschinengefreiten zum Obermaschinenmaat befördert. J.E. fällt am 3. April 1944 bei einem Bombenangriff.
Die Adressatin Elisabeth (Rufname Elsa) Doll, geborene Eldracher, ist am 25 Oktober 1917 als Tochter des Schlossers Karl Eldracher und Elisabetha Eldracher (geb. Gerstner) in Heddesheim geboren. Sie absolvierte ebenfalls die Volkschule und begann die Ausbildung zur Schneiderin, die sie erfolgreich abschloss. Anschließend arbeitete sie als Näherin in der Textilfabrik " Felina" in Mannheim. Am 28. August 1943 heiratete sie den Mechaniker Anton Doll. Am 11. März 2000 verstirbt Elsa Eldracher in Heddesheim.

Exkurs I: Schlachtschiff "Scharnhorst" und "Tirpitz"

Aus dem Wehrpass von J.E. geht hervor, dass er auf der "Scharnhorst" und auf der "Tirpitz" als Elektroinstallateur gearbeitet hat. Deshalb möchte ich kurze Informationen über die jeweiligen Schiffe geben.

"Scharnhorst"

Die Indienststellung der "Scharnhorst" war am 7. Januar 1939.
Das 234,9 m lange und 30 m breite Schlachtschiff hatte einen Tiefgang von 9,1 m. Die Baukosten betrugen 143.Mio Reichsmark. Dieses Schiff benötigte eine Besatzung von 1840 Mann. Bei einer Geschwindigkeit von 19 Knoten hatte das Schiff eine Reichweite von 7100 Seemeilen.
In der Zeit, in der sich J.E. auf dem Schiff befand, vom 7.Januar 1939 bis zum 19.April 1941, wurden ca. zwölf Seegefechte geführt. Zwei Monate bevor er die "Scharnhorst" verläßt, wird er in den vom Kapitän erstellten "Mitteilungen für die Besatzung"(im Anhang unter Doc.5) mit seinen besonderen Einzelleistungen unter Punkt 3 j) für seine Störungsbeseitigung an der Kompaßanlage gelobt.
Die "Scharnhorst" sinkt am 26.12.1943 um 19.45 Uhr nach dem Gefecht mit einer überlegenen britischen Streitmacht vor dem Nordkap 72° 16n/ 28°41 o nach 15 Torpedotreffern. Es gab 1803 Tote.

"Tirpitz"

Das Schlachtschiff "Tirpitz" wurde am 25. Februar 1941 in Dienst gestellt. Das Schiff war 251 m lang, 36 m breit und hatte einen Tiefgang von 9 m. Der Bau dieses Schiffes kostete 181,6 Millionen Reichsmark und wurde wie die "Scharnhorst" in der Kriegsmarinewerft in Wilhelmshaven gebaut. Die Besatzung war 2500 Mann stark plus 108 Offiziere. Im Vergleich zur "Scharnhorst" hatte das Schlachtschiff eine Reichweite von 8870 Seemeilen. Auf diesem Schiff hat J.E. ca fünf Seegefechte miterlebt. Nach einem großen Schaden vom September 1943 musste das Schiff in die Werft und war erst wieder ab März 1944 einsatzbereit. Am 3. April 1944 wurde die "Tirpitz" bei einem Großangriff britischer Trägermaschinen durch 14(!) Bombentreffer erheblich beschädigt. Unter den 108 Toten war auch J.E.
Am 12. November 1944 wurde die "Tirpitz" von 36 Lancaster- Langstreckenbombern angegriffen. Die erste Welle der Bomber erzielte bereits drei Treffer und die "Tirpitz" geriet in 60° Schlagseite. Nachdem weitere Bomben die Backbordwand weggerissen hatten, drehte sich das Schiff durch den Wassereinbruch auf 135°. Damit war die "Tirpitz" vernichtet. An diesem Tag starben 1204 Mann und 806 Soldaten konnten gerettet werden.
Von 1948-1957 wurde das Schiff von einer norwegisch-deutschen Firma am Untergangsort abgewrackt.

Interpretation der Quellen (Q1-Q3)

Schon bei der oberflächlichen Lektüre fällt der betont lässige, flapsige ja stellenweise sogar anzügliche Ton auf. J.E. betont seine fürsorliche und brüderliche Verantwortung für seine Schwester, die sich verliebt zu haben scheint. Die Stimmung in dem ersten Brief wirkt positiv. Die Anrede "liebes (schlechtes) Schwesterlein" (Q1, Zeile 3) und dass man sie nicht mit einer Rose sondern mit einer Distel vergleichen soll,gibt einen Einblick in das wohl sehr gute Verhältnis der beiden Geschwister.
Der Brief 1 ist an die Textilfabrik "Felina" adressiert und nicht an die eigentliche Heimatanschrift von Elsa Eldracher. Die erste mögliche Ursache ist das Postgeheimnis. Die wenig erhaltenen Dokumente der Familie lassen darauf schließen, dass J.E. sich nur selten zu Hause gemeldet hat. Es bestand also die Gefahr, dass die Eltern von Joseph und Elsa Eldracher den Brief einfach geöffnet hätten, da es ein Schreiben des Sohnes war. Der Inhalt des Briefes, speziell die angesprochene Geschichte mit dem "Herzensbrecher" (Q1, Zeile 12) wäre den vielleicht nichts ahnenden Eltern offenbart worden.
Ein zweiter Aspekt, warum der Brief nicht direkt nach Hause geht, ist, dass von Kolleginnen gesprochen wird. Daraus schließe ich, dass Kolleginnen der "Felina"- Fabrik gemeint sind. Ich gehe sogar soweit zu sagen, dass die erwähnten Pakete an die anderen Soldaten von Frauen aus der Fabrik stammen. Die Anspielungen wie "Gruß an den Klub der Unge______??" (Q1, Zeile 23 f) oder "Erzähle bloß nicht soviel von mir" (Q1, Zeile 27) lassen bereits mehrfachen Kontakt zwischen Soldaten und Fabrikarbeiterinnen vermuten. Das Wort "Unge______" (Q1, Zeile 24) bedeutet wahrscheinlich ungeküsst. Auch dass ein Teil der Marinesoldaten "einer jeden von Euch einen Wunsch"(Q1, Zeile 16) erfüllen will, bestätigt meine These. Die im Paket erhaltenen Pflaumen waren "verschrunzelt" (Q1, Zeile 8) was J.E. zu einer zotigen Bemerkung verleitet.
Der Postweg zwischen Mannheim und den Schiffen der Marine hatte demnach eine größere Zeitspanne hinter sich. Die Post vom Schiff zum Festland dauerte 10-14 Tage. (Vgl. Brief 2 Quelle 2, Zeile 10) Am Ende des Briefes (Q1) steht ein Gruß an einen gewissen Gack-Gack. (Q1 Zeile 26) Trotz Befragungen von allen noch lebenden Verwandten konnte mir keiner erklären, wer dies ist.
Der zweite noch erhaltene Brief von J.E. ist mit dem 20. August 1943 datiert. Dieser Brief ist nun an die Heimatadresse von Elsa Doll gerichtet. Die Überraschung und Enttäuschung, dass seine Schwester schon am 28. August heiraten will, wird in den ersten Zeilen sehr deutlich. "...daß Du schon am 28. August heiratest" und "Ich dachte es wäre etwas später" (Q2, Zeile 6 f) lassen einen kleinen Unterton erkennen. Er bedauert, an diesem besonderen Tag nicht dabei sein zu können was er mit dem mehrmals wiederholten Wort "leider" (Q2, Zeile 11, 22) betont. Im Vergleich zum ersten Brief ist für mich eine leichte Resignation erkennbar. " Denkt mal an diesem Tag ein bißchen an mich" (Q2, Zeile 13). Es ist das erste Mal dass solch eine gefühlsbetonte Äußerung, die auf ihn bezogen ist, fällt. In diesem Schreiben spricht er sehr hypothetisch und auf die Zukunft verweisend. "Wenn ich mal auf Urlaub komme" (Q2, Zeile 20-21) oder "das werde ich später nachholen" (Q2, Zeile 23f).
Trotzdem wünscht er dem Paar alles Gute für die Ehe. Wie in der Paraphrase von Q2 schon erwähnt, ermutigt J.E. seine Schwester, Kinder zu zeugen. Diese sozusagen staatsoffizielle Haltung, "Mutterschaft als Dienst an der Volksgemeinschaft und Empfängnis und Geburt als heroische Höhepunkte des weiblichen Lebens".[ 1 ] unterläuft J.E. mit einer unmittelbaren Wendung ins Privat-Anzügliche:
Die seiner Schwester unterstellte notgedrungene sexuelle Enthaltsamkeit sei ja nun beendet: "nun mal ran ans Gewehr" (Q2, Zeile 20) Und aus den "Soldaten für den Führer" wird ein kleiner Neffe zum Spielen, wenn J.E. auf Urlaub kommt. Sollte er also mal weg aus dem Kriegsgeschehen kommen, möchte er sich im Urlaub über Nachwuchs freuen. Zur Erklärung: Das Wort "Petter" (Q2, Zeile 19) ist Dialekt und steht für Patenonkel.
Bis zu diesem Zeitpunkt ist die Anspielung auf das Kinderzeugen die einzige politische Bemerkung. In keinem der Briefe ist von weiteren politische Themen oder Parolen die Rede. Die Schreiben sind nicht mit einem "Heil Hitler" o.ä. versehen.
Der dritte Brief weist nun ganz andere Merkmale auf. Wie in jedem Brief bedankt er sich für ein unmittelbar vorher angekommenes Päckchen oder Schreiben. Der Anfang unterscheidet sich also kaum von den anderen Briefen. Aber J.E. scheint die Tatsachen zu verdrehen oder die Ursachen nicht sehen zu wollen: Nicht etwa der Krieg, an dem er beteiligt ist, sei die Ursache dafür, dass man in der Heimat Mangel leidet und ein jung vermähltes Paar keinen Hausstand gründen kann (Q3, Zeile 9,10), da es nichts zu kaufen gibt; dies wird deutlich ausgeblendet und statt dessen "Arbeit und Kampf" (Q3, Zeile 11), in J.E.´s Fall auf See, unmittelbar damit gerechtfertigt, dass der beklagte Mangel gerade durch den Krieg beseitigt werden soll. Das "Arbeit und Kampf" verharmlost die Situation, denn er arbeitet ja als Elektriker[ 2 ] an Bord und nicht an der Waffe oder dem Geschütz selbst. J.E. verdrängt den Krieg und das Töten, aber durch seine Reparaturen an Bord ermöglicht er das Versenken anderer Schiffe.
Durch den Angriff von vier britischen Kleinst- U- Booten am 22. September 1943 ist die "Tirpitz" schwer beschädigt worden. Die vier gelegten Grundminen sorgten dafür, dass das Schiff erst im März 1944 wieder einsatzbereit war. Die bedrückte Stimmung, die sich in J.E.´s drittem Brief ausdrückt, muss an Bord allgemein so gewesen sein. Dafür gibt es verschiedene Ursachen. Als sich die "Tirpitz" fast fünf Monate in der Werft befand, konnte sich die Besatzung ein wahres Bild über die Kriegssituation in Deutschland machen. Zudem waren sie unter Druck, denn die Alliierten erhöhten ihre Schiffsproduktion (USA und GB zusammen: 1943 14.585.000 Bruttoregistertonnen und 1944 13.249.000 BRT [ 3 ]) und steigerten ihre Flugangriffe. Die Kriegsmarine wurde jetzt gefordert. Es wäre aber unnötig, an dieser Stelle über die Kriegsrelevanz der Überwasserstreitkräfte der deutschen Kriegsmarine zu diskutieren.
Der Satz: "mir geht es so weit noch gut" (Q3, Zeile 11) lässt auf seine Gefühlslage schließen. Es beginnt die Resignation, und durch die vielen Angriffe auf die "Tirpitz" wird J.E. die gefährliche Lage an Bord erst bewusst. Wenn man dann noch in die vertraute Heimat schreibt wünscht man sich natürlich gerne nach Hause. Er möchte, dass der 26. Geburtstag seiner Schwester so gefeiert werde, wie es sich gehört. Der "Schwips" (Q3, Zeile 14) der dazugehört, soll auch nachgeholt werden, wenn er auf Urlaub kommt: "dann wird einer über die Brust gewälzt" (Q3, Zeile 16) ist wohl mit der heutigen flapsigen Wendung: "Einen drauf machen gehen" vergleichbar. J.E. wünscht sich so schnell wie möglich mal wieder nach Hause zu kommen. "Allzulange wird das wohl nicht mehr dauern"(Q3, Zeile 15/16). Mit dem Satz: "hoffen wir das Beste"(Q3, Zeile 17) hebt er seine innere Stimmung noch mal hervor in seinem sehr kurz gehaltenen Brief. Will er eigentlich noch mehr schreiben, darf dieses aber wegen der Briefzensur nicht niederschreiben? Gab es überhaupt Zensur? Trotz der Recherche in der Universitätsbibliothek Heidelberg, habe ich zu dem Thema Feldpost und Zensur keine brauchbare Literatur gefunden. Aber bei keinem der Briefe ist eine Ortsangabe gemacht worden. Alle Briefe sind mit "An Bord"(Q1,Q2,Q3 Z 2) und dem jeweiligen Datum versehen. Er hätte ja auch eine ungefähre Ortsangabe machen können. Nach meiner Kenntnis ist dies aber nicht erlaubt gewesen. Nicht zu vergessen ist, dass er nie ein Wort über ein Gefecht oder eine Schlacht in den Briefen verliert. Aber aus verschiedenen Büchern geht hervor, wie oft die Schlachtschiffe "Scharnhorst" und "Tirpitz" angegriffen haben und angegriffen wurden. Es muß also eine Kontrollinstanz gegeben haben, die den Schriftverkehr geprüft hat. Hinzu kommt, dass vertrauliche Informationen, die an den Feind gelangen, unter Umständen zum Nachteil für die Schiffe und deren Besatzung werden. Den Standort oder Probleme, die zur Zeit an Bord herrschen, könnten die Gegner zu ihrem Vorteil nutzen und ihre Taktik daraufhin verändern.

Schluss

Die drei Quellen, die in einem Zeitraum von drei Jahren verfasst wurden, geben eigentlich nur einen geringen Einblick in die Familienverhältnisse. Es wäre interessant gewesen, alle Briefe sowohl jeden Brief vom Schiff, als auch die Antwortbriefe von meiner Großmutter, zu lesen und zu analysieren.
Trotzdem war es aufschlußreich, Familienforschung mit alten Dokumenten zu betreiben. Es zeigten sich verschiedene Zusammenhänge. Mein Vater ist der erstgeborene Sohn meiner Großmutter. Er erhielt also höchstwahrscheinlich den Namen Josef, in Erinnerung an den gefallenen Bruder meiner Großmutter. Warum hat meine Großmutter uns Enkeln nie Briefe aus der damaligen Zeit gezeigt? Die Inhalte waren zwar sehr flapsig formuliert, zeigten aber, dass das Verhältnis von meiner Großmutter zu ihrem Bruder sehr leger und offen war.
Wenn man die familienorientierte Sicht verläßt, wird deutlich, welche Belastungen die damaligen Soldaten aushalten mussten. In ihren Briefen befand sich die Erinnerung an Zuhause und die scheinbare Normalität. Aber in Wirklichkeit befindet sich J.E. auf dem Schlachtschiff, das eine große Anzahl an Bruttoregistertonnen pro Monat versenkt,will sagen: Menschenleben vernichtet. Die wechselnde Stimmung von Begeisterung bis zu der am Schluss auffälligen Resignation wird im Verlauf der Briefe deutlich.
Während meiner Recherche zum Thema fand ich bei meiner Großmutter ein Buch mit dem Titel "Schlachtschiff Tirpitz" von Jochen Brennecke. In diesem Tatsachenbericht ist die Todesszene von J.E. beschrieben: "Das Licht im Achternschiff brennt. Da ist auch der Maat Eldracher. Er ruht am Boden, schwarz im Gesicht, denn ihn traf die Flamme der Detonation direkt von vorn. Kittel hockt sich neben seinen Kameraden. Er neigt den Kopf zu ihm hinab und ruft Eldracher an. 'Jupp, was ist denn bloß los?' sagt Eldracher mit leiser Stimme. Dann fällt sein Kopf zur Seite. Tot." [ 4 ] Der Autor Jochen Brennecke ist kein objektiv forschender Historiker. Sein Buch über die "Tirpitz" würde man heute wahrscheinlich eher dem Genre der Docufiction zuordnen. Er hat Zeitzeugenaussagen ausgewertet und in eine dramaturgisch aufbereitete Erzählung verwandelt, die von einem auktorialen Erzähler berichtet wird. Es handelt sich also keineswegs um einen historisch wissenschaftlichen Text. Zudem war J.E. nicht Maschinemaat, sondern Obermaschinenmaat. Trotzdem war ich schon erstaunt, ja auch berührt, meinen Großonkel J.E., immerhin namentlich und in einer Szene, sozusagen literarisch aufgehoben zu finden.

Exkurs II: Frauen im Nationalsozialismus

Dass der Muttertag 1935 zum nationalen Feiertag erklärt und drei Jahre später die Medaille mit der Prägung "Das Kind adelt die Mutter" (Mutterkreuz) eingeführt wurde, hat mit der Stellung der Frau im Nationalsozialismus (NS) insoweit zu tun, als ästhetisch verbrämt wird, was als Bild von und als Forderung an die Frau dahintersteht: die Frau als Gebährmaschine, oder wie der NS- Parteiideologe Alfred Rosenberg es formulierte, als Mutter und Hütterin der Rasse, als "planzenhaftes" und nur "auf das Subjektive gerichtetes Wesen". Auf dem Nürnberger Parteitag 1934 erklärte Hitler der dort versammelten "NS- Frauenschaft", dass "die Frauenbewegung" nur ein Ziel habe: "das Kind, dieses kleine Wesen, das werden und gedeihen soll, für das der ganze Lebenskampf ja überhaupt allein einen Sinn hat."
In den Monologen im Führerhauptquartier 1941-1944 aufgezeichnet von Heinrich Heim, der im Auftrage Martin Bormanns als Hitlers Eckmann die monologisch vorgetragenen Gedanken des "Führers" für die Nachwelt aufzuzeichnen hatte, findet sich unter dem 26.1.1942 folgende Bemerkung Hitlers:
"Ein Frauenzimmer, das sich in politische Sachen einmischt, ist mir ein Greul. Völlig unerträglich wird es, wenn es sich um militärische Sachen handelt!
In keiner Ortsgruppe der Partei durfte eine Frau auch nur die kleinste Stelle habe. Man hat daher immer gesagt, die Partei sei frauenfeindlich, wir würden in der Frau nur eine Gebärmaschine oder ein Lustobjekt sehen. Das ist nicht der Fall: In der Jugendfürsorge und auf den caritativen Gebieten habe ich ihr viel Raum gegeben! 1924 tauchten bei mir die politischen Weiber auf: die Frau von Treuenfels, die Mathilde von Kemnitz, sie wollten Reichstagsmitglieder werden, um die Sitten dort zu veredeln. Ich sagte ihnen, neunundneunzig Prozent aller Beratungsgegenstände sind Männerdinge, die Sie nicht beurteilen können! Die Frauen wollten aufbegehren, konnten mir aber nicht mit der gleichen Waffe begegnen, als ich ihnen vorhielt: Sie werden doch nicht behaupten, daß Sie die Männer so gut kennen, als ich eine Frau kenne! Ein Mann, der brüllt, das ist nicht schön, aber schlimmer ist es noch bei der Frau: Ihre Stimme wird um so piepsiger, je mehr sie schreit. Sie fangen an zu kratzen oder mit Haarnadeln zu stechen! Je galanter man einer Frau gegenüber ist, desto mehr wird man die Frau davon zurückhalten, Dinge zu versuchen, die ihr nicht liegen. Alles, was mit Kampf- und Bluteinsatz zusammenhängt, ist Sache ausschließlich des Mannes, er hat die letzte Konsequenz zu tragen. Zu vielen Sachen muß man eine Frau heranziehen, weil die Frauen da mehr praktisches Verständnis haben. So zum Beispiel, wenn man eine Wohnung einrichtet. Die Frau Professor Troost versteht sich auf die Farbengebung einer Innendekoration wie kaum ein Mann. Vier Paradefrauen habe ich gehabt: Frau Troost, Frau Wagner, Frau Scholtz- Klink und Leni Riefenstahl."
Dass sich das NS- Frauenbild in der Wirklichkeit des Krieges problemlos derselben anzupassen wußte, zeigt u.a. auch das populäre Propagandamittel Film. Nicht mehr die sich liebevoll aufopfernde, an die starke Schulter des Mannes sich lehnende Frau ist Ideal, sondern die selbständige, "den Laden schmeißende" Frau, die vom Ernteeinsatz über die Arbeit im Rüstungsbetrieb bis zur aktiven Soldatin alle "Jobs" übernimmt, die ihr vorher angeblich "naturbedingt" nicht zustanden.
Schon am 20.8.1942, keine sieben Monate nach dem oben zitierten Monolog, sagt Hitler:
" Nun haben wir Krieg, wir haben die Verdunkelung. Frauen arbeiten im größten Ausmaß in der Wirtschaft mit. Wenn nun hier nicht durch die abschreckendsten Maßnahmen verhindert wird (gemeint sind die Überfälle auf Frauen), dass man ihnen die Verrichtung ihrer Aufgaben erschwert, dann können wir die Kriegsproduktion nicht mehr aufrecht erhalten."
Bereits im Kriegsjahr 1939 hatten Himmler und Göring die "weibliche Arbeitspflicht im Kriege" angekündigt. Es war wohl zu erwarten, dass das propagierte Frauenbild ähnlich "wissenschaftlich" gefertigt war, wie der grausame Rest der NS-Ideologie. Zwischen Mutterkreuz und Rüstungsbetrieb besteht nur scheinbar ein Widerspruch.

Literaturverzeichnis

[ 1 ] Bracher Karl D./Funke Manfred/Jacobsen Hans(Hrsg.), Deutschland 1933-1945 Neue Studie zur nationalsozialistischen Herrschaft, Bundeszentrale f. polit. Bildung, Bonn 1992,2. Auflage S. 199 ff
[ 2 ] siehe Doc.5 im Anhang "Mitteilungen an die Besatzung" unter Punkt 3 j
[ 3 ] Dtv- Atlas zur Weltgeschichte,Band 2, 15. Auflage 1980
[ 4 ] Brennecke, Jochen, Schlachtschiff Tirpitz, Heyne Verlag, Germany 1992 16. Auflage Seite 67

(Die Arbeit entstand an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg im Fach Geschichte. Prof. Uffelmann wollte, dass jeder Studierende eine Hausarbeit anfertigt, die sich mit eigenen familiengeschichtlichen Dokumenten befaßt. Das Seminar war eine "Einführung in die Geschichtswissenschaft")

Daniel Doll

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